40 Jahre Jugendwerkstatt
Chance auf Teilhabe erhöhen
Überall werden Arbeitskräfte gesucht, der Fachkräftemangel ist deutlich spürbar. Wozu wird denn überhaupt noch eine solche Institution wie die Jugendwerkstatt gebraucht?
Nicht alle Jugendlichen - und schon gar nicht Langzeitarbeitslose - können ohne Weiteres in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden. Diese Menschen müssen die Gelegenheit bekommen, Zwischenschritte zu gehen, um sich an die Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes anzunähern. Dies kann durch das Nachholen des Hauptschulabschlusses geschehen, aber auch ganz grundlegend, indem erst einmal eine Tagesstruktur erlangt und Zutrauen in die eigenen Lernkompetenzen gewonnen wird. Die Jugendwerkstatt hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Raum zu bieten. Sie ist bestrebt, die gesellschaftlichen Teilhabechancen der Menschen zu erhöhen. Dazu stehen verschiedene Qualifizierungsangebote zur Verfügung.
Welche sind das zum Beispiel?
Wir bieten entsprechend dem Förderkettenprinzip Maßnahmen an, die Jugendliche und Erwachsene auf das Berufs- und Arbeitsleben vorbereiten, sind im Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung tätig, führen sozialräumlich orientierte Projekte durch und bilden in vier Gewerken aus. In der Jugendwerkstatt können benachteiligte junge Menschen über öffentliche Förderung oder die Ausbildungspatenschaften eine Ausbildung zur Fachkraft für Holz- und Bautenschutz, zur Tischlerin, zur Verkäuferin, zur Fachkraft für Metalltechnik, zum/zur Fachpraktiker*in im Metallbau und zum/zur Fachpraktiker*in im Verkauf absolvieren.
Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Wir setzen nicht allein auf Coaching-Angebote, sondern bieten daneben die Möglichkeit an, in verschiedene Berufe »hineinzuschnuppern«. Dazu betreiben wir die Fahrradwerkstatt, die Metallwerkstatt, das Bistro, die Kreativ-Textilwerkstatt, die Holzwerkstatt, die Bauabteilung, die Transportabteilung und das Kaufhaus. Mit diesen Werkstätten halten wir Übungsbereiche bereit, die an den Realitäten des ersten Arbeitsmarktes orientiert und daher sehr gut geeignet sind, Teilnehmende an den Arbeitsmarkt heranzuführen.
Die Anfänge der Jugendwerkstatt Gießen gehen auf die 1978 eingerichtete »Beratungsstelle für arbeitslose Jugendliche« unter der Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) zurück. 1982 wurde der »Verein Jugendwerkstatt Gießen e.V.« gegründet, der Träger sämtlicher Projekte war. Ab dem Jahr 2000 begann die Zusammenführung der verschiedenen Werkstätten zu dem heutigen Standort. 2015 wurde die Jugendwerkstatt in eine gGmbH überführt. Die Hauptgesellschafter der gemeinnützigen GmbH sind der Verein »Jugendwerkstatt« und die oberhessischen Dekanate der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.
Thema »Produkte der Jugendwerkstatt«: Was können Sie uns darüber berichten?
Wir arbeiten nach dem Produktionsschulansatz - das bedeutet, dass die Teilnehmer Produkte wie Feuerkörbe oder Vogelhäuschen herstellen, die wir in unserem Kaufhaus anbieten. Es ist uns wichtig, dass sich die Teilnehmer als Wertschaffende erleben. Das Kaufhaus gehört vielleicht zu unseren bekanntesten Aushängeschildern. Dort kann jeder für kleines Geld gut erhaltene, gebrauchte Sachen kaufen. Es lebt von den Möbel- und Kleiderspenden, die uns Menschen zur Verfügung stellen. Wir nehmen gerne gut erhaltene Gebrauchsgegenstände - außer Elektrik - entgegen, damit sie nicht unnötigerweise auf dem Müll landen. Aktuell kann man umgestaltete Kleider aus einem Upcycling-Projekt im Modehaus Köhler sehen. Das ist ein gelungenes Zeichen im Zuge der Nachhaltigkeit, der wir uns verpflichtet haben.
Welche Veränderungen sehen Sie durch das Bürgergeld auf die Jugendwerkstatt zukommen?
Das Bürgergeld ersetzt ab 1. Januar 2023 das bisherige Arbeitslosengeld II, auch als Hartz IV bekannt. Sinngemäß soll es zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen, zugleich die Würde des Einzelnen achten und der nachhaltigen Integration in den Arbeitsmarkt dienen. So gesehen sind dies Ansprüche, die mit unserem Leitbild sehr gut zusammenpassen. Es gibt einige Erleichterungen und Erhöhungen für die Leistungsempfänger, allerdings ist offen, wie viel Geld für Eingliederungs- und Qualifizierungsmaßnahmen übrig bleiben wird. Das ist ein großes Fragezeichen, von dem unsere Finanzierung abhängig ist.
Wie sehen Sie die Zukunft der Jugendwerkstatt?
Wir stehen gerade an einem Scheideweg. Angesichts der zu erwartenden Einsparungen im Bereich des Verwaltungsetats und des Eingliederungstitels möchte ich mit den Worten von Oskar Negt das Augenmerk darauf lenken, dass »Arbeitslosigkeit ein Gewaltakt ist, ein Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität der davon betroffenen Menschen«. Arbeitslosigkeit wird als individuelles Problem, ja als Schuld der erwerbslosen Personen angesehen. Dabei wird ausgeblendet, dass Arbeitslosigkeit Ausdruck eines Systemdefekts ist, der durch Veränderung des Systems behoben werden kann. Ich hoffe sehr, dass die niedrigschwellige Förderung von Langzeitarbeitslosen auch zukünftig möglich ist.
(Das Interview erschien am 1. November. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Gießener Anzeigers.)