Dekanatsempfang zum Buß- und Bettag
Was sollen Kirche und Diakonie für Menschen tun? Das muss zur Leitfrage bei allen Überlegungen zur künftigen Gestalt und bei der grundlegenden Veränderung der Kirche sein, so jedenfalls lautete der Tenor des Gottesdienstes und des Empfangs von Dekanat und Diakonie. Eingeladen war der Pfarrer und Soziologe, Prof. Reimer Gronemeyer, der mit Veröffentlichungen zu Themen wie Altern, Demenz und Pflege aber auch mit kritischen Beiträgen zur Zukunft der Kirche deutschlandweit hervorgetreten ist. Für ihn hat die Kirche in ihrer heutigen Gestalt keine Zukunft mehr.
Barbara Czernek hat für die Gießener Allgemeine Zeitung (GAZ) den Abend beobachtet. Mit freundlicher Genehmigung der GAZ geben wir ihren Beitrag hier wieder.
»Kirche, so wie wir sie bisher kennen, wird uns in der Zukunft nicht mehr begleiten!« Diese klaren und eindringlichen Worte sprach der Gießener Soziologieprofessor und Theologe Prof. Reimer Gronemeyer am Mittwochabend im Rahmen seines Vortags »Wird die Kirche noch gebraucht? Vom Aufbruch in der Krise«. Er wagte damit etwas auszudrücken, womit sich viele Menschen aktuell beschäftigen, denn den Kirchen laufen die Mitglieder weg, was enorme Auswirkungen auf das Engagement haben wird.
Anlass war der erste gemeinsame Jahresempfang des evangelischen Dekanats und der Diakonie. Dies betonten Gerhard Schulze-Velmede, Vorsitzender der Dekanatssynode, und Sigrid Unglaub, Leiterin der Gießener Diakonie, in ihrer gemeinsamen Eröffnungsrede. Es war ein passender Rahmen, um sich mit Kirche in den heutigen Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen.
Gronemeyer machte seine eingangs erwähnte These an drei Eckpunkten fest, die er mit persönlichen Geschichten untermauerte. Am Vortag habe er den Chor der Demenzkranken in der Pankratiuskapelle besucht. Er verglich diese Gruppe von Menschen, die viele Dinge wegen ihrer Erkrankung nicht mehr auf die Reihe bekämen, mit dem aktuellen Zustand der Kirche. Demenzerkrankte verabschieden sich Schritt für Schritt von ihrer bürgerlichen Existenz, so wie sich die Kirche in ihrer heutigen Form auch aus der Gesellschaft verabschiedet. »Da dachte ich mir: Das hier ist Kirche. Kirche heute ist das Aufgebot der Gescheiterten«, sagte Gronemeyer.
Aufgebot der Gescheiterten?
Auch Jesus sei ein gescheiterter Mensch gewesen, zumindest in den Augen der damaligen Gesellschaft. Gronemeyer: »Die Kirche verschwindet, und das schmerzt mich.« Für ihn findet sich Kirche, so wie sie einmal war, in den kleinen Geschichten rund um Glaube, Liebe, Hoffnung wieder. Ihm sei dies bei den Müllsammlern in Namibia begegnet. Diese Müllsammler, die leise wie Gespenster durch die Straßen ziehen, bevor die Müllabfuhr die Tonnen leeren würde, teilten das gefundene Brot miteinander. Dies erinnerte ihn an das letzte Abendmahl. »Die Kirche, wie wir sie hier kennen, ist weg, oder an einem anderen Ort, wo wir sie nicht finden.«
Als dritten Eckpunkt seiner Rede nannte der 1939 in Hamburg geborene Professor die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs. »Da flohen alle vor den Bomben der Engländer in die Bunker, und wenn der Alarm vorbei war, war die Welt nicht mehr so wie vorher. Alles war weg, von einer auf die andere Sekunde.« Dafür habe es eine große Welle der Solidarität gegeben, die er heute oftmals vermisse. »Wenn wir die grandiose Idee des Christentums ernstnehmen, dann wird uns Gott bei den Demenzkranken, den Müllsammlern begegnen, den Menschen in Not.« Er vertraue den Grundwerten des Christentums, dann sei das Reich Gottes mitten unter uns. »Es ist ganz leicht und ganz schwer, Kirche aus diesen Trümmern zu retten, weil sie so notwendig ist wie noch nie.«
Eingeleitet wurde der Jahresempfang mit einem Gottesdienst, der einen inhaltlichen Bogen zur Arbeit des Gießener Diakonischen Werks spannte. Moderne Texte und Reflexionen zum Thema Armut und Betteln wurden geschickt in den Kontext zur Bibelstelle über den Blinden in Jericho, den Jesus heilt, gesetzt.
Schuldnerberater berichten
Anschließend berichteten Andreas Koch und Aura Modrock, beide von der Schuldner- und Sozialberatung des Diakonischen Werks Gießen, über ihre Arbeit, wie sie oftmals mit kleinen Mitteln den Menschen helfen können. Das Bibelzitat: »Was soll ich für Dich tun?«, dass das Leitmotiv des gesamten Gottesdienstes war, ist zugleich die Grundhaltung der Diakonie, wie Dekan André Witte-Karp ausführte. Den Gottesdienst gestalteten Witte-Karp, die Pfarrerinnen Carolin Kalbhenn und Imogen Kasemir-Arnold und Pfarrer Alexander Klein. Für die musikalische Ausgestaltung zeichneten Marina Sagorski und Mitglieder des Chors der Petrusgemeinde verantwortlich.