Poesie der Gebärden
Gehörlosenseelsorgerin Julia Held
Julia Held kommuniziert mindestens vierdimensional. Während sie von ihrer Arbeit erzählt und vom Reichtum der Gebärdensprache schwärmt, ergänzen unablässig ihre Mimik und ihre Finger, die in alle Richtungen gehen und sich zu Zeichen formen, lebhaft das Gesagte. Eine großartige, geradezu poetische Ausdrucksform sind Gebärden, betont sie. Keineswegs ein bloßes Hilfsmittel, sondern eine eigene Sprache, die Identität stiftet für eine kulturelle Gemeinschaft der Menschen, die nicht hören können.
Bildhaftigkeit der Gebärdensprache
Julia Held ist Hörende und seit 2016 Gehörlosenseelsorgerin, außerdem Gefängnisseelsorgerin in der Haftanstalt Butzbach. Davor war sie Gemeindepfarrerin im Gießener Stadtteil Allendorf. War sie zunächst nur für die Wetterau da, feiert sie seit kurzem auch in Gießen Gottesdienste. In der Gießener Pauluskirche wird die Bildhaftigkeit der Gebärdensprache sichtbar. Thema ihrer Predigt: „Heute-Gottesdienst-Thema-Paulus-seine-Reisen. Paulus-viel-Reisen. Viele-Briefe-geschrieben. Geschickt-an Gemeinden. Bescheid-gesagt-Jesus-Glaube-wie?“ Gebete, biblische Lesung, Predigt, Segen, Abkündigungen, all das vermittelt Pfarrerin Held mit Gebärden. Manchmal spricht sie die Worte laut mit, wenn Hörende dabei sind. Dann stellt sie mit einer Geste am Hals ihre „Stimme-an“.
„Grammatik lese ich im Gesicht“
Kommunikation ist die Art und Weise, erlebte Wirklichkeit zu beschreiben und mitzuteilen. Gehörlose nutzen dafür Gesten, Mimik und Körperhaltung, auch mit lautlos gesprochenen Wörtern. Diese Elemente werden zu Sätzen kombiniert, die jedoch einen anderen Aufbau haben als bedeutungsgleiche Sätze der Lautsprache. „Wie geht es Dir?“ Diese Frage wird als: „Du-Körper-Gut?“ gebärdet. Ob Sätze eine Aussage, Fragen oder Befehle enthalten wird mimisch dargestellt. Mehr Hauptwörter als Verben werden gezeigt. Zusammengesetzte Worte, die Hörenden geläufig sind, werden in voneinander getrennten Wortbestandteilen dargestellt. „Die Grammatik lese ich im Gesicht und in der Bewegung der Hände“, ergänzt Julia Held.
Gebärdensprache wird kontinuierlich erweitert
Gebärdensprache ist unmittelbar, prägnant und direkt, sie reduziert oder vereinfacht nicht, sondern konzentriert und fokussiert auf die einzelnen Elemente. Für Pfarrerin Held war das, als sie sich um die Stelle der Wetterauer Gehörlosenseelsorgerin bewarb, neu und sie begann erst diese Sprache zu lernen und zu entdecken. Fertig wird sie damit nie sein, weil Gebärdensprache dynamisch ist. Kontinuierlich wird sie erweitert und um neue Gesten ergänzt.
Poesie der Gebärden
Julia Helds Augen strahlen und beinahe leuchten die Fingerspitzen, die immer wieder in Richtung Gesicht fahren, wenn sie etwa von der Poesie der Gebärden spricht und Beispiele darstellt. „Mit Gebärden bin ich viel näher am Herzen als mit Worten.“ So wie Poesie sich der Alltagssprache entzieht und ihre Wirkung über das Gedicht hinaus entfaltet, findet die gebärdete Botschaft ihren Ausdruck in der Körpersprache, mit Händen dicht am Herzen, "so, als tritt die Seele nach außen".
Kunstvolle Art zu kommunizieren
Gebärdensprache ist also keine Einschränkung, sondern ein anderer Zugang zur Wirklichkeit. Auch Maler zeigen die erlebte und gefühlte Wirklichkeit in Bildern. In diesem Sinn ist Gebärdensprache eine sehr kunstvolle Art und Weise, miteinander zu kommunizieren, betont die Pfarrerin. Wer sich durch die Website der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Gehörlosenseelsorge (DAFEG) klickt oder bei YouTube die Darstellung des 23. Psalms anschaut, glaubt es ihr aufs Wort.
Gebärdensprache stiftet Identität
Vor allem stiftet Gebärdensprache Identität. Gehörlose haben keine Nachbarn, mit denen sie einfach so mal plaudern können. Deswegen sind die Gottesdienste und anschließenden Treffen so wichtig. Und so machen sich auch 70-80jährige regelmäßig auf den Weg. Gehörlosen-Gottesdienste finden alle zwei Monate statt in der Stadtkirche Friedberg am 2. Sonntag des Monats und in der Pauluskirche Gießen am 1. Sonntag des Monats.
Julia Held singt mit ihrer Gemeinde - wenn auch ohne Ton und Organistin. Sie gebärdet die Liedtexte vor, zeigt die Worte auf einer Leinwand und die Gemeinde macht mit - eine Art choreografierter Tanz mit Händen und dem ganzen Körper: „Schritt-Schritt-immer-wieder- Schritt-Gott-kommt mit.“
Gehörlosenlose waren ausgeschlossen
Über Jahrhunderte haben die Kirchen Gehörlose diskriminiert und ausgeschlossen. "Wer von Gott ist, der hört Gottes Worte; ihr hört darum nicht, weil ihr nicht von Gott seid", sagt Jesus im Johannesevangelium (Kapitel 8, Vers 47). Damit schien klar zu sein: Nur Hören führt zum Verstehen und damit zum Glauben. Gott will also von Gehörlosen – damals Taubstumme genannt – nichts wissen, so die schlichte wie gnadenlose Schlussfolgerung.
Erst vor 500 Jahren begannen Mönche und Nonnen vereinzelt, Gehörlose in Gebärdensprache zu unterrichten. Denn Fingeralphabete und Gebärdencodes waren für die, die ein Schweigegelübde abgelegt hatten, längst erfunden. Ende des 19. Jahrhunderts entschieden (hörende) "Taubstummen-Pädagogen" jedoch auf einem internationalen Kongress, dass Gehörlose künftig Lippen lesen und Lautsprache lernen sollten. Die Kultur der Gebärdensprache lag brach. Die DAFEG weist auf die "gebärdensprachliche Wende" vor rund 25 Jahren hin. Heute wird im Gehörlosengottesdienst, in seelsorgerlichen Gesprächen oder bei kirchlichen Freizeitangeboten ganz selbstverständlich gebärdet.
Zwischentöne bei der Seelsorge
Bei ihren ersten Gehörlosen-Gottesdiensten spürte Julia Held noch Scham und Hemmung, mit Händen und dem Gesicht zu kommunizieren. Aber ihre Gemeinde war nur dankbar, dass sie so engagiert einsteigt. Und doch übt sie natürlich die Gebärden der Predigt vor dem Spiegel. Für die Seelsorge lernt sie noch die „Zwischentöne“, die bei persönlichen Problemen vor allem in der Mimik zu erspüren sind.
Gebärden gehört zu ihrem Alltag
Der Dienst hat mich verändert, sagt Julia Held. Körpersprache und Mimik sind fester Bestandteil ihrer Ausdrucksfähigkeit und ihrer Wahrnehmung. Im Gefängnis Butzbach nutzt sie ihre Kenntnisse, um die non-verbalen Signale und die Körpersprache der Gefangenen zu verstehen. Auch über sich selbst hat sie mehr erfahren. Sie habe sich immer für einen Menschen gehalten, für die Körpersprache und Mimik irrelevant seien. Mittlerweile weiß sie ihre körperliche Präsenz zu schätzen. Und es ist so in ihren Alltag eingezogen, dass sie manchmal auch zuhause unwillkürlich gebärdet, bis eine ihrer Töchter sie bremst.