Interview
Neuer Dekan: "Auseinandersetzungen werden rauer"
Im Jahr 2060 wird es nur noch halb so viele Kirchenmitglieder geben wie heute. Das jedenfalls besagen Untersuchungen der evangelischen und katholischen Kirche. Wie traurig macht sie diese Prognose?
Sie macht mich wenig traurig, weil ich zuversichtlich bin, dass wir neue Formen für die Kirche im 21. Jahrhundert finden werden. Menschen haben die Kirche immer mit den Möglichkeiten gestaltet, die sie in ihrer aktuellen Zeit vorfinden. Ich habe viel Gottvertrauen, dass die Kirche nicht an den Formen hängen bleiben muss, die wir in den letzten 50 Jahren gewohnt sind zu leben.
Bei den kirchlichen Strukturen müssen wir kritisch und ehrlich sein, dass wir manches auch nicht werden aufrechterhalten können. In den letzten siebzig Jahren sind mehr kirchliche Gebäude gebaut worden, als zuvor seit der Reformation. Die Kirchensteuern sind seit der Nachkriegszeit gesprudelt. Die Kirche hatte durch die steigenden Geburtenraten nach dem Krieg sehr viele Mitglieder. Das ist heute anders.
Aber das tut doch zumindest den Älteren weh!
Ja, und nicht nur ihnen! Das hat viel mit der eigenen Biografie, dem eigenen Glaubensleben, dem Leben der Familie, mit den Erinnerungen an das Erlebte in der Kirche oder im Gemeindehaus zu tun. Das sind schmerzhafte Abschiede.
Aber wir als Kirche sind doch eigentlich gut darin, Abschied zu gestalten und klar zu machen, dass Abschied schmerzhaft ist und Wunden bleiben, und dass es trotzdem unter der Verheißung Gottes weitergeht. Wir werden Salz der Erde sein, auch wenn wir nicht mehr über so viele Gebäude, so viele Pfarrerinnen und Pfarrer und über unseren heutigen Reichtum verfügen werden.
Angesichts der vorhergesagten Einbrüche sollten wir jetzt nicht darauf setzen, vor allem für die Zukunft zu sparen, also in die Scheunen schaffen zu wollen, um das biblische Bild zu nutzen. Sicher müssen wir auch Vorsorge treffen. Die Ressourcen, über die wir heute verfügen, sollten wir aber vor allem nutzen, um Weichen für die Zukunft zu stellen.
Woran denken Sie?
Nur ein Beispiel: Wir sollten kirchliche Berufe in der Verwaltung stärken. Gemeinden stehen einer Flut von gesetzlichen Regelungen und Verwaltungsaufgaben gegenüber. Es ist wichtig, die Sekretariate zu stärken und zu professionalisieren, um die Pfarrerinnen und Pfarrer für die Seelsorge und die öffentliche Verkündigung zu entlasten. Es ist auch dafür wichtig, dass die Ehrenamtlichen weiterhin in der Lage sind, Gemeinden zu leiten, ohne sich tot zu verwalten.
André Witte-Karp (42) wurde in Essen geboren und studierte Theologie und Sozialwissenschaft in Bochum Wuppertal, Bonn und Edinburgh. Seit 2010 ist er Pfarrer in der Kirchengemeinde Friedberg und seit 2014 Stellvertretender Dekan des Dekanats Wetteraus. André Witte-Karp ist verheiratet und hat zwei Kinder im Alter von 13 und 10 Jahren. Er ist bis zu seinem Dienstantritt am 2. Oktober in Gießen auch stellvertretender Dekan des benachbarten Dekanats Wetterau.
Kränkt es Sie, für eine Institution zu arbeiten, die einen erheblichen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust erleidet?
Unsere Bedeutung entsteht nicht dadurch, dass wir uns wichtigmachen oder von anderen als wichtig angesehen werden. Unser Gewicht kommt daher, dass Gott in der Welt Gewicht hat. Das zu verdeutlichen ist unser Auftrag. Dafür haben Menschen offene Ohren und erwarten und erhoffen viel von der Kirche. Nicht nur seelsorgerlich, sondern auch in unseren öffentlichen Beiträgen.
Wir werden auch zukünftig Chancen und Möglichkeiten haben, gesellschaftliche Debatten zu begleiten, etwa Impulse zur Versöhnung, zu Flucht und Integration, zur Digitalisierung oder zur Klimakrise zu geben.
Manchmal scheint es so, als hätte die Kirche in den letzten Jahren öffentlich zu wenig darauf hingewiesen, dass Christen von ihrem Glauben her seit Jahrzehnten für die Bewahrung der Schöpfung, also für die Umwelt und den Klimaschutz, eintreten?
Ja, und jetzt kriegen wir Impulse von außen und entdecken neu, dass es ein ureigenes Thema unseres Glaubens ist. Es ist doch wunderbar, dass Jugendliche nun auf die Straße gehen und das einfordern. Wir haben uns in den letzten Jahren beschwert, dass diese Generation unpolitisch sei. Und nun zeigen junge Menschen uns, wie unpolitisch wir vielleicht geworden sind!
Was antworten Sie einem Jugendlichen, der fragt, warum man heute noch Pfarrer in einer absterbenden Institution wird?
Dem würde ich nach wie vor sagen, dass Pfarrer sein der schönste Beruf der Welt ist. Weil ich mit so vielen unterschiedlichen Menschen in Kontakt kommen und ihnen begegnen darf. Menschen kommen uns mit einem solchen Vertrauensvorschuss entgegen, öffnen sich und stellen uns Fragen, die in die Tiefe ihres Lebens gehen. Das ist herausfordernd und bereichernd. Ich kann den Glauben an Gott, wie er wirkt und waltet, mit den ureigenen Lebensgeschichten der Menschen in Kontakt bringen.
Als Dekan wird Witte-Karp Vorgesetzter von rund 50 PfarrerInnen und ist verantwortlich für die Pfarrstellenbesetzungen in den Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen. Außerdem repräsentiert er die evangelische Kirche in der Region in der Öffentlichkeit und vertritt die kirchlichen Positionen gegenüber Politik und in der Gesellschaft.
Wie verstehen Sie Ihre künftige Aufgabe als Dekan?
Zum einen will ich da sein für alle, die im und für das Dekanat tätig sind, Pfarrerinnen und Pfarrer, Mitarbeitende, ob haupt- oder ehrenamtlich. Und zum anderen will ich nach innen in die Gemeinden und nach außen in die Gesellschaft Impulsgeber sein. Ich freue mich darauf, zu entdecken, wo wir als Kirche in und um Gießen gefordert sind.
Welche Themen sehen sie jetzt schon?
Wir erleben, dass unsere Auseinandersetzungen rauer werden. Verleumdungen, Lügen und Halbwahrheiten drohen an die Stelle von Fakten zu treten. Wir drohen zu verrohen in einem Klima von Spaltungen und Schmähungen. Der im Juni verübte Mord an Walter Lübcke, dem Kasseler Regierungspräsidenten, erschreckt uns. Er kam aber nicht aus dem Nichts. Da sind wir gefordert uns einzusetzen für die Würde eines jeden einzelnen Menschen, für einen fairen Streit, für eine Stärkung der Demokratie und der Zivilcourage. Auch und gerade in Gießen.
Die Stadt und Region sind von Zuzug und Mobilität geprägt, unterschiedliche Menschen suchen nach einem guten und gelingenden Leben. Das mitzugestalten, ist eine wichtige Aufgabe.
Ein anderes Thema: So sehr wir auch vom „Gießen-Boom“ sprechen, leben wir auch in unserer Region in einer insgesamt alternden Gesellschaft. Und in den Dörfern rund um Gießen stellt sich die Frage, was passiert, wenn soziales Leben verödet. Wenn Läden zur Versorgung und als Treffpunkte verschwinden, wenn Vereinsleben verdorrt. Die Kirche muss daran mitwirken, Leben in der Dorfgemeinschaft zu gestalten.
Damit sind wir auch wieder bei kleiner werdenden Kirchengemeinden …
Deshalb ist eine zentrale Frage, wie wir angesichts zurückgehender Gottesdienstbesuche und der geringer werdenden Zahl an Pfarrerinnen und Pfarrer die Gemeinden künftig gut versorgen. Ich möchte, dass wir vor Ort unsere Schätze neu entdecken.
Wir werden uns mit dem Gedanken vertraut machen müssen, dass wir nicht mehr in jeder Gemeinde und in jedem Ort jeden Sonntag Gottesdienst feiern können. Da könnten wir unser Augenmerk darauf richten, was uns im Laufe eines Kirchenjahres in unseren Gemeinden guttut und besonders am Herzen liegt.
Das müssen benachbarte Gemeinden unbedingt gemeinsam in den Blick nehmen. Stimmen Sie dem zu?
Es wird ganz wichtig werden, den Austausch und die Kooperation zwischen den Gemeinden zu fördern. Miteinander darauf zu blicken, was haben wir in den einzelnen Gemeinden für Stärken, für Ressourcen und besondere Schätze. Was ist uns wichtig? Wo glänzen wir? Was wollen wir bewahren?
Ich möchte den Blick auf die Ressourcen lenken und nicht auf die Mängel. Und das Miteinander von benachbarten Gemeinden etwa in einem Kooperationsraum birgt die Chancen, gemeinsam darauf zu schauen, welche unterschiedlichen Gaben die einzelnen Gemeinden aber auch die einzelnen Pfarrerinnen und Pfarrer in eine Zusammenarbeit einbringen. Es geht darum, gemeinsam gut zu wirken und nicht im Gefühl zu handeln, nur noch Mängel zu verwalten.
Dafür kann das Dekanat oder ein Dekan Impulse geben. Doch, wie es konkret gestaltet wird, darüber können nur benachbarte Gemeinden selbst und miteinander befinden. Das lässt sich nicht von oben vorgeben.