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Dekan Becher über Grenzen und Geschäfte in Gießen

Warum Sonntagsschutz?

Gießens Einkaufsmeile - Der Seltersweg

Gießens Einkaufsmeile - Der Seltersweg

Was hat die Evangelische Kirche in Gießen grundsätzlich zum Wert und über den Schutz des Sonntags zu sagen?

Die gerichtliche Absage des verkaufsoffenen Sonntags am 6. November hat eine polemische Debatte hervorgerufen.

Der "Gießener Anzeiger" hat am 10. November 2016 nachgefragt, was die Evangelische Kirche in Gießen grundsätzlich zum Wert und über den Schutz des Sonntags zu sagen.

Dokumentation

Nachdem der Verwaltungsgerichtshof die Ladenöffnung am vergangenen Sonntag bei Liebigs Suppenfest auf Initiative von Verdi und der Katholischen Arbeitnehmerbewegung gekippt hat, sieht sich besonders die Kirche scharfer Kritik ausgesetzt - zum Teil auch aus den eigenen Reihen. So sprach Hermann Heil, Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde St. Albertus, von einem "Scherbenhaufen, den Gießens Gewerkschafts- und Kirchenvertreter angerichtet haben". Man werde dieser Kirchenbehörde nicht nachtrauern, wenn sie einmal verschwunden sei. Schausteller-Chef Andreas Walldorf hat gar seinen Austritt angekündigt. Der Kirche warf er unter anderem vor, sich in Sachen einzumischen, von denen sie keine Ahnung habe und die sie nichts angingen. Für die Evangelische Kirche in Gießen, die mit Pfarrer Klaus Weißgerber in der "Allianz für den freien Sonntag" vertreten ist, stellt sich Dekan Frank-Tilo Becher den Vorwürfen. Dabei schlägt Becher versöhnliche Töne an.

 

Die Sonntagsöffnung von Läden berührt nicht die Gottesdienste. Warum streitet die Evangelische Kirche dennoch so heftig für den arbeitsfreien Sonntag?

Gottesdienste schützen wir am besten, wenn sie so einladend und bereichernd für die Menschen sind, dass die gerne kommen. Beim arbeitsfreien Sonntag geht es für mich um mehr als die unmittelbaren kirchlichen Interessen. Einen Ruhetag in der Woche, wie er aus der jüdisch-christlichen Tradition stammt, ist auch heute noch ein Segen und ein Geschenk für die moderne Gesellschaft. Er ist wichtig für alle Menschen, für unsere Familien und für die Gemeinschaft, die wir in Freundeskreisen, Vereinen, Kirchengemeinden und bei Festen pflegen - und dafür sollte Zeit sein. Religionen geben bis heute dem Leben einen Rhythmus, wie den des christlichen Kirchenjahres, zu dem zum Beispiel das Weihnachtsfest gehört.

Viele Menschen, auch Kirchenmitglieder, finden, dass die Evangelische Kirche sie und die Gesellschaft nicht bevormunden dürfe und den Menschen nicht vorschreiben könne, wie sie ihre Freizeit zu verbringen haben.

Es ist richtig und wichtig, dass die Menschen ihre Entscheidungen in Freiheit treffen. Aber Entscheidungen brauchen auch Orientierung. Zu Fragen des gesellschaftlichen Friedens etwa werden die Kirchen selbstverständlich gehört. Wenn die Kirchen nun für Werte einstehen, die unbequem erscheinen, oder gar Verhaltensänderungen verlangen, wird das als rückschrittlich wahrgenommen und als Ideologie zurückgewiesen, die sich unzulässig in Privates einmischt. Wir werden alle am liebsten in unseren Ansichten und unserem Handeln bestätigt. Aber das Wort der Kirche muss manchmal quer liegen, Nachdenklichkeit und Diskussion auslösen. Auch dies ist Ausdruck der Freiheit.

Es ist längst selbstverständlich, sonntags beim Bäcker oder an der Tankstelle einkaufen zu gehen, oder sonntags am Computer online zu bestellen. Hinken die von der Kirche vertretenen Argumente nicht der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher?

Die kirchlichen Argumente für den arbeitsfreien Sonntag kommentieren eine gesellschaftliche Entwicklung kritisch. Eine Entgrenzung hat unser Leben radikal erfasst. Alles scheint immer und überall möglich. Wir können inzwischen ja schon an sechs Tagen in der Woche nahezu rund um die Uhr einkaufen. Das ist nicht wenig. Und gleichzeitig stoßen wir in all der Grenzenlosigkeit an Probleme. Wir denken über die Bedingungen im Onlinehandel, Handysucht und Internetzeiten unserer Kinder oder Burnout kritisch nach.

Viele Menschen fragen inzwischen wieder nach notwendigen Grenzen. Bei den vier verkaufsoffenen Sonntagen hat uns diese Dynamik der Entgrenzung genauso eingeholt. Aus der Möglichkeit, anlassbezogen Geschäfte zu öffnen ist das Schaffen von Anlässen geworden, um maximal öffnen zu können. Da hat sich etwas von den Füßen auf den Kopf verkehrt.

Ist vielleicht manchmal die lokale Wirtschaftsförderung für die Menschen einer Stadt wichtiger als der langfristige Sonntagsschutz?

Mir ist wichtig zu sehen, dass beide Positionen, die des Handels und die der Sonntagsschützer, von Werten geleitet sind. Wenn in Geschäftskreisen von Arbeitsplatzsicherheit die Rede ist, dann ist das ein hoher Wert und ein verantwortungsbewusster Blick. Aber es gibt eben auch den Blick auf Menschen, die Pausen brauchen, den Blick auf die Menschen, die für den Shopping-Sonntag gar nicht das Geld haben, den Blick auf eine tolle Stadt, die auch mit bewusster Sonntagsruhe eine Imagekampagne fahren könnte. Wenn wir also als tiefste Motive gerade Werte und Haltungen verhandeln, dann ist auch klar, dass ein Gerichtsurteil niemals die Lösung ist. Es bringt aber einen Gesichtspunkt, der in der Verfassung angemahnt wird, neu und stärker ins Gespräch. Damit sollten wir gemeinsam weiter machen.


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